Antipoden

Antipoden sind zwei Punkte auf der Erde, die sich direkt gegenüberlegen. Sie sind die mathematische Antwort auf die Frage eines jeden Kindes: Wo komme ich raus, wenn ich jetzt eine Schaufel nehme und nach unten grabe? Oder: Wenn jemand so auf der Erde steht, dass meine Fußsolen genau auf seine treffen, wo steht diese Person dann? Für Deutschland ist das einfach und leider recht unspektakulär zu beantworten: Niemand steht im Südpazifik irgendwo südöstlich von Neuseeland. Das Gegenüber meines Startpunktes im Hafen am Hamburger Baumwall liegt bei 53° 33,2 Minuten Süd und 170° 0,5 Minuten West. Weiter weg von der Elbmetropole kann man auf der Erde nicht sein.

Der Flieger landet eine Stunde nach Sonnuntergang in Nassau. Fünfunddreißig Minuten, die aus dem sonnigen Florida in die nächtliche Inselwelt der Bahamas führen. Eine Welt, die gegensätzlicher zu dem Leben der vergangenen Wochen nicht sein kann. Niemand kümmert sich darum, dass der Flieger schon beim Start fast zwei Stunden Verspätung hatte. Kein Meckern und Mosern. Man ist vielleicht etwas müde, aber der „Bahamian Pace“ bestimmt eben schon am Gate wieder den Alltag.

Segeln scheint der Beamten am Flughafen eine gute Begründung für eine Aufenthaltsgenehmigung von weiteren 90 Tagen. Stichprobenhaft stellt der Zollbeamte Fragen und interessiert sich auffällig für die Taschen einer Gruppe College-Mädchen, die in knappem Spring-Break Outfit unterwegs sind. Es wird gelacht, gescherzt, ein wenig geflirtet und letztlich trotzdem, oder gerade deswegen, gründlich gefilzt. Ein bisschen enttäuscht wirkt er, als eine Tasche nach der anderen ohne Beanstandung wieder geschlossen wird. Ich bin weniger sein Typ. „Was ist in den Taschen?“ – „Segelkleidung und Fotoausrüstung“ – „O.K.“
Ob seine ausführlicheren Kontrollen beim anderen Geschlecht professionellen Hintergrund haben, bleibt offen. Der Erfolg allerdings gibt ihm scheinbar recht: Am Sonntag macht er oder einer seiner Kollegen Schlagzeilen: Zwei junge Amerikanerinnen mit 1,5 Kilo Kokain im Gepäck am Flughafen verhaftet.

„Do you need a ride?“, schallt es mir vor den klimatisierten Hallen des Flughafens entgegen. Eine Mauer aus Worten, die scheinbar die Mauer der feuchtwarmen Tropenluft beim Aufprall im Gesicht noch beschleunigt. Die zwei Dutzend Taxifahrer lassen keine Zeit zum Denken. Sie drängen die Fahrgäste förmlich zu den Autos, vor allem die weißen, vor allem die mit viel Gepäck. Touristen kennen sich nicht aus, zahlen zu viel Trinkgeld, und da Taxameter hier grundsätzlich gerade kaputt sind, braucht man nicht einmal Umwege mit ihnen zu fahren.
Meine Frage nach seinem Preis nach Coral Harbour löst dem entsprechend die erste Enttäuschung aus. Vorher den Preis auszumachen zeigt, dass ich eben doch nicht zum ersten Mal hier bin. Sein Vorschlag, dreißig Dollar, ist ein letzter Versuch: Ich kommentiere ich mit einem Lächeln, wir einigen uns bei fünfzehn.

Willkommen auf der anderen Seite der Welt. Nicht ansatzweise ein Antipode zu Hamburg, erst recht keiner zu Miami. Mit 25 Grad Nord und 77 Grad West weniger als halb so weit, wie der Weg zum Südpazifik. Fürs Erste aber weit genug.


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