Westwind

Meldrum Bay, fünfter Tag. – Man macht die ganze Nacht kein Auge zu, wenn das Boot im Schwell aus Nordost und Starkwind aus Nordwest ununterbrochen von einer Seite zur anderen rollt. Tack… tack… tack… Irgendwo klappert immer etwas in einem Schapp, einem Schwalbennest oder der Spüle. Und tut es das nicht, hält einen das Auf und Ab auf den Beinen. Diese Nacht verbringe ich zu einem großen Teil im Niedergang und schaue den Ankerlaternen der wenigen Boote hinter Paulinchen in der Meldrum Bay zu. Es sind nicht viele, aber der nächste, nach Norden geschützte ankerplatz ist über 20 Meilen entfernt. Hier bietet zumindest der kleine Wellenbrecher der Marina etwas Deckung. Von Steuerbord klingt es trotzdem, als ob jemand Fische füttert. Das Ächzen und Jammern in den Kojen kann man in so einer Nacht fühlen. Irgendwo zwischen: „John this is my last sailing trip“ und „Next night we dock a in a Marina.“ Das letzte Boot, das ankam, ankerte direkt hinter mir. Sein Ankerlicht scheint langsam weiter in die Ferne zu rücken. Ich hatte mir das gedacht, bei etwa 35 Fuß Bootslänge, einem ca. 10 Kilo schweren M-Anker und ganzen 60 Zentimeter Kettenvorlauf bei Böen, die vereinzelt an die 40 Knoten erreichen. Es ist hell geworden, bevor der Wind langsam nachlässt. Eilig werden Anker aufgeholt und entweder die Marina oder der offene North Channel Richtung Osten angesteuert. Ich lege mich schlafen und danach kommt die Überraschung: Spät am Vormittag wache ich gerädert auf und denke nicht „Zum Glück ist es vorbei“, sondern: „Jea!, endlich eine Nacht, die das Gefühl für das Abenteuer wieder wachgerüttelt hat.“ Stunden, die an die schlaflosen Nächte in den Bahamas, in denen ich das Ankern in Starkwind lernen musste erinnerten. Scheiß drauf, ob das ungemütlich war, in Unterhose und T-Shirt bei einem halben Meter Welle in die finstere Nacht zu starren, die Füße vom kalten Wasser umspült und mit der Hand an der Ankerleine den Halt im Grund zu prüfen. Verglichen mit dem losen Korallensand dort scheinen die Anker im klebrigen Schlick Kanadas wie in Beton gegossen zu sein. Was beim morgendlichen Kaffee im Kopf nachhallt, ist das Heulen im Rigg, das Knattern der Flagge am Heck, das Knarren der straffen Ankerleinen an Klampen und Klüsen. Es ist das reale Gefühl dem Wetter untergeordnet gewesen zu sein und ihm dennoch auf Augenhöhe begenet zu sein. Die Müdigkeit, die jetzt in den Knochen steckt, ist eine andere als die, die den Alltag der letzten Wochen bestimmte. Beim Start des Törns war „Ungemütlich“ gewissermaßen ein Teil des Plans. Inzwischen ist vieles viel zu gemütlich geworden. Aber dieses „Ungemütlich“ ist viel zu wichtig, um es aufzugeben. Es heißt wach zu bleiben, fit zu bleiben und den Geist mit Problemstellungen zu fordern. An Stelle eines beinahe lethargischen Nichtstuns in einem Umfeld, das durch seine Ähnlichkeit zu bekannten Revieren, in eine angenehm reizlose Stimmung führte, verlangt die heutige Müdigkeit nach Aufbruch und nach dem ursprünglichsten aller Ziele dieser Reise: dem unmittelbaren Erleben. Heute nimmt der Nordwestwind im Laufe des Tages weiter ab. Morgen Nachmittag dreht er auf Südwest, später auf Südost. Dann weht er mir nicht mehr aus den USA entgegen, sondern aus Kanada hinterher über die Grenze auf meinem Weg in den Golf von Mexiko.


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